ich schreibe Dir, weil ich wahrnehme, dass viele Menschen Angst haben, verunsichert sind. Ich spüre eine allgegenwärtige Ohnmacht gegenüber einer unwägbaren Zukunft und gegenüber einer großen Notsituation. Was ist passiert? Eine Pandemie stellt die Welt vor eine Zerreißprobe. Einerseits möchten Staaten mit verschiedenen Instrumenten ein hohes Gut – die Gesundheit ihrer Bürger – schützen. Andererseits führen diese Instrumente dazu, dass wir temporär in gewissen Freiheiten massiv eingeschränkt werden. Viele machen sich Sorgen um die Bildung der Kinder, um ihre sozialen Beziehungen und haben Zukunftsängste, weil Einnahmen und Einkommen mit dem Herunterfahren weiter Bereiche der Wirtschaft einbrechen und sie nicht wissen, wie sich ihre persönliche Lage entwickeln wird.Kein Staat hatte bisher Erfahrungen darin, wie er auf diese praktischen, immensen Probleme der Pandemie reagieren soll. Im Sinne eines Ausprobierens haben Regierungen mit (Teil-)Lockdowns, Hygieneregeln und auf der anderen Seite mit Notpaketen für die Wirtschaft interveniert, um die Not abzumildern. Das sind Eingriffe in unser Alltagsleben – und ob diese Instrumente die erwünschten Effekte haben (wirtschaftliche Not abmildern, die Ausbreitung der Krankheit eindämmen und die Triage verhindern), das wird seit einem guten Jahr ausgetestet in diesem riesigen globalen Realexperiment, in dem wir alle unfreiwillig mitwirken.Wie damit umgehen? Wie kannst Du uns dabei helfen, diese Unsicherheit auszuhalten, liebe Solidarität?Ich beobachte mit Sorge, wie Spannungen entstehen und von einzelnen angeheizt und emotional aufgeladen werden. Es gibt Proteste, die sich gegen die Instrumente und gegen die Regierungen, die sie veranlassen, richten. Diese Spannungen übertragen sich auf unser Leben in der Gemeinschaft, auf unser individuelles (Familien-/Single-)Leben. Es gibt offene Zweifel an der Demokratie. Unsere Demokratie ist ein hohes Gut. Wir wägen bei jeder Wahl ab, wem wir zutrauen, unser Individual- und unser Kollektivleben in unserem Interesse zu gestalten – und wer in der Lage ist, Krisen zu bewältigen. Noch nie wurde so um Anordnungen, Beschlüsse und Einschnitte gerungen und diskutiert. Die Corona-Pandemie ist DIE Stunde der politisch legitimierten Mandatsträger!Die Wahlen beeinflussen derzeit die Haltung einiger Mandatsträger oder ambitionierter Kandidaten und verführen dazu, einfache Wahrheiten zu kommunizieren, um die Wähler zu überzeugen, für sie zu stimmen. Ich frage: Wie kann eine nie da gewesene Krise, die jeden von uns als Menschen verletzlich macht, einfach zu bewerten sein? Die Pandemie hat ein komplexes, globales Problem geschaffen, das die Menschheit philosophisch, ethisch, kulturell, moralisch, juristisch und medizinisch beantworten muss. Hier sind Experimente und Modellversuche eine Chance, wichtige Erkenntnisse zu gewinnen. Doch beispielsweise wird der Modellversuch im Landkreis Harz (oder der in Tübingen) kaum auf Basis eines reflektierten Methodendesigns wissenschaftlich begleitet. Damit werden Chancen zu bloßen Marketing-Instrumenten und bleiben ungenutzt. Ich möchte so gerne wieder darauf vertrauen, dass Mandatsträger im Rahmen ihrer Möglichkeiten Wege suchen, diese akute Notsituation zu verstehen, den Sorgen der Menschen mit dem nötigen Respekt begegnen und eine sachliche Debatte gemeinsam mit ihnen führen. Eine Debattenkultur, die alle der eben genannten Disziplinen mit einbindet und die die Menschen trotz der Komplexität des Problems mitnimmt.Liebe Solidarität, wie soll der Staat, wie sollen Politik, Justiz und Exekutive es schaffen, die Herzen und Köpfe der Menschen wieder zu erreichen? Wie sollen sie die Ohren und Augen der Menschen für sachliche Argumente öffnen, damit sie zusammenhalten, damit Familien und Freundeskreise nicht gespalten werden? Ich und sie haben Dich nicht vergessen. Du bist uns nahe und ein jeder einzelner trägt Dich in seinem Herzen. Manche nennen Dich Nächstenliebe. Manche nennen Dich innerer Wertekompass. Manche sagen, Du bist der Kleber, der die Gesellschaft zusammenhält. Intuitiv möchten wir solidarisch handeln.Es fällt vielen schwer, diese Grundhaltung offen zu vertreten, Vorbild zu sein und auf die Instrumente in diesem komplexen Reallabor zu vertrauen. Es fällt ihnen schwer, weil die Zeit der „temporären Eingriffe“ nun schon über ein Jahr anhält und einige den Glauben daran zu verlieren scheinen, dass es eine Zeit nach dieser großen Not gibt. Sie haben Angst. „Je schlechter die Zeiten, desto autoritärer die Menschen“, ist ein berühmtes Zitat des Sozialphilosophen Erich Fromm, der das komplexe Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in seinen Arbeiten untersucht hat und postuliert, dass Menschen in postmodernen Gesellschaften das „Haben“ über das „Sein“ stellen.
Liebe Solidarität, halte an uns fest und schenke uns wieder Vertrauen in die Wissenschaften, in die Stärke unserer Gemeinschaft, in das, was Erich Fromm als „Sein“ beschreibt. Shopping, Reisen und Partys fehlen uns, auch mir. Es sind nicht die Merkmale, die mich zu einem freien Menschen machen. Freiheit ist eine Geisteshaltung, die Kreativität und Spontaneität im Denken ermöglicht, die uns den Blick für die Gemeinschaft öffnet und uns zu Nächstenliebe befähigt.